Andenkondore sind mit einer Spannweite von 3,50 m und ca. 15 kg Gewicht die größten Geier der Welt und leben in Südamerika. Die Andenkondore sind die einzigen Geier, bei denen sich Männchen und Weibchen leicht unterscheiden lassen: Männchen haben nämlich einen fleischigen Kamm auf dem Kopf, Weibchen nicht. Dieser Wandbild-Geier trägt ebenfalls den charakteristischen Kamm, also besteht kein Zweifel, dass meine Entdeckung richtig war. Auf dem Wandbild ist ebenfalls ein Stier oder Bulle zu sehen und eine menschliche Hand. Mir kam die Szenerie direkt bekannt vor, aber ich konnte sie nicht sofort einordnen.
Nachdem ich ein Foto meiner Entdeckung auf Facebook geteilt hatte, kommentierte ein Geierkollege das Bild mit dem Hinweis, dass es eine Szene einer grausamen peruanischen Tradition darstellen: Das „Yawar Festival“. Natürlich, genau daran hatte es mich erinnert!! Ich kannte keine Details mehr, aber erinnerte mich vage daran, dass bei diesem Fest Andenkondore zum Vergnügen der Zuschauer schrecklich gequält werden. Grund genug etwas zu recherchieren, ob es sich bei dem Bild wirklich um Tradition oder nur Zufall handelt. Schnell wurde ich fündig:
Das Wandbild stammt von dem argentinischen Street-Art-Künstler Franco Fasoli und wurde im Rahmen des Cityleaks Urban Art Festival 2015 kreiert. Der Name des Kunstwerks lässt keine Zweifel mehr übrig: „Yawar“!
Das Yawar Festival, auch Blut-Fest genannt, findest jedes Jahr am 29.Juli statt, einen Tag nach dem peruanischen Unabhängigkeitstag. Zur Feier des Tages wird ein Andenkondor an seinen Flügelspitzen gehalten durch in einer Parade durch die Straßen gezogen. Anschließend wird er mit Seilen an den Rücken eines Bullen befestigt. Dabei wird durch die Haut des Bullen genäht und manchmal sogar sein Hals blutig geschnitten, damit der Andenkondor umso wilder reagiert. Hierbei symbolisiert der Andenkondor die einheimischen Völker und der Bulle die spanischen Konquistadoren. Der Kampf der Tiere spiegelt also die großen Kämpfe der lateinamerikanischen Geschichte und den Sieg der einheimischen Völker über die Eindringlinge wieder. Angestachelt durch einen Torero rast der Bulle nun mit dem Andenkondor auf seinem Rücken durch die Arena und versucht den Riesengeier abzuschütteln, während der Kondor verzweifelt zuhackt. Dabei kommt es nicht selten vor, dass der Geier zwischen Bulle und Wand eingeklemmt wird und sich dabei verletzt. Ca. 30 % der Andenkondore überleben dieses grausame Spektakel nicht. Ein weiterer Prozentsatz wird schwer verletzt, bricht sich die Knochen oder ruiniert sich das gesamte Gefieder. Die überlebenden Tiere werden in teils schrecklicher Verfassung freigelassen – aber erst nachdem sie mit gebratenem Meerschweinchen gemästet und mit Schnaps und Bier abgefüllt wurden. Außerdem bindet man ihnen eine Kette mit Geldscheinen als Glücksbringer um den Hals. In dieser Verfassung fällt ihnen das Abheben oft sehr schwer und sie stürzen beinahe ab. Schaffen sie den Abflug doch, so wird mit Livemusik, Böllerschüssen und einem Feuerwerk gefeiert. „El Cóndor pasa!“
Für das blutige Festival werden die Andenkondore aus der freien Natur eingefangen und teils wochenlang unter schlimmen Bedingungen in Käfigen gehalten. Das Einfangen und Töten der majestätischen Geschöpfe ist gesetzlich verboten und kann mit bis zu 8 Jahren Gefängnis bestraft werden. Da die Yawar Fiesta allerdings ein beliebtes, traditionelles Ereignis ist, nehmen natürlich auch Polizisten und Richter an dem Spektakel teil. Wie sich leicht erraten lässt, wurde dementsprechend noch nie ein Urteil für die Tötung eines Andenkondors ausgesprochen.
Das Absurde an dem Ganzen ist zudem, dass früher vermutlich gar keine Andenkondore für dieses Festival missbraucht wurden. 1941 erschien allerdings ein historisches Buch mit dem Titel „Yawar Fiesta“ von dem peruanischen Autor José María Arguedas (1911-1969), der als Hemingway der Anden gefeiert wurde. Interessanterweise kommt der Andenkondor in dem Buch gar nicht vor, ziert aber praktisch jedes Cover. Dennoch begannen nach Erscheinen des Buches plötzlich viele Dörfer und Gemeinden mit dem Zelebrieren des Blut-Festes. Seit den 40er-Jahren ist das Festival zu einer weit verbreiteten, besonders blutigen, neuen „Tradition“ geworden.
Mittlerweile finden jedes Jahr schätzungsweise an 55 Orten Yawar Fiestas statt.
Trotz seiner teils schrecklichen Behandlung wird der Andenkondor ebenfalls verehrt: So ist er Wappentier von 4 Ländern in den Anden mit sehr positiven Bedeutungen: In Bolivien steht der Andenkondor gemeinsam mit Lorbeerkranz und Olivenzweig für Kühnheit, Mut, Stolz und die Freiheitsliebe der Bevölkerung sowie Triumphe, Frieden und Integration der Republik. In Kolumbiens Wappen steht er für Freiheit und Ordnung, in Chile für Stärke und in Ecuador für Macht, Größe und Stärke.
Weitere Traditionen und Glaube rund um den Andenkondor:
- In der Sprache Quechua heißt der Andenkondor „kuntur“. Die Inkas glaubten der Andenkondor sei unsterblich. Er repräsentiert die Jananpacha, die Ober-Welt , den Himmel und die Zukunft.
- Gute Menschen werden als Andenkondor wiedergeboren.
- Fliegt ein Andenkondor über ein Dorf, so wird jemand sterben.
- Der Andenkondor ist ein heiliges Tier und wird oft als „apu“ bezeichnet: „Gott“. Er wird als Botschafter aus einer anderen Welt bezeichnet oder als Verbindung zwischen Gott und den Menschen.
- Fühlt sich ein Andenkondor alt, energielos und nutzlos, so erklimmt er den höchsten Gipfel der Umgebung und stürzt sich in den sicheren Tod.
Wie alle übrigen Geierarten ernähren sich Andenkondor von den Kadavern toter Tiere. In der Vergangenheit wurde angeblich öfters beobachtet, wie sie lebende Kälber rissen. Daher fürchten viele Bauern um ihr Nutzvieh und sehen den majestätischen Riesengeier lieber tot als lebendig. Sie legen außerdem Giftköder gegen andere Raubtiere aus, von denen leider auch immer mal wieder Andenkondore fressen. Weitere Bedrohungen sind der Verlust von Lebensraum, Klimawandel und das Verschwinden großer Nutztierherden, von denen in der Vergangenheit immer mal wieder ein lecker Aas angefallen ist. Außerdem werden Andenkondore, die an der Pazifik-Küste nach Meeresaas suchen, ebenfalls verfolgt, da sie angeblich die Seevögel von der Produktion des viel genutzten Guanos abhalten.
Ich habe seit Samstag viele Artikel über die grausame Yawar Fiesta gelesen und fühle eine große Ernüchterung nach der anfänglichen Euphorie einen Andenkondors an einer Hauswand in Köln entdeckt zu haben. Und ich muss immer wieder an meine tollen Erlebnisse mit den wilden Andenkondoren 2012 in Ecuador sowie das kürzliche Treffen mit Andy N. Condor von Tracy Aviary in Salt Lake City denken. Andenkondore sind solch majestätische, elegante Flieger, beeindruckende Geschöpfe und bildschön anzusehen. Ich möchte nicht, dass sie von unserer Erde verschwinden!!! Glaube und Tradition mag vielen Menschen wichtig sein, aber diese Barbarei muss endlich aufhören!!!
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